LINDNER: Aus Chancen der Zuwanderung kann durch anhaltendes Staatsversagen eine Belastung werden
Berlin. Zur andauernden Flüchtlingskrise erklärte der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER am Montag vor Journalisten in der Bundespressekonferenz:
„Wir sind beeindruckt von den Gesten gelebter Mitmenschlichkeit in Deutschland. Menschen in Not zu helfen, ist ein Gebot von Humanität und Solidarität. Wir sehen in Zuwanderung die Chance, eine Antwort auf das demografische Problem unserer Gesellschaft zu geben und unser Land damit stärker zu machen. Aus den Chancen von Zuwanderung kann aber durch das anhaltende Staatsversagen eine Belastung werden.
Bei der Zuwanderung kommt es auf nichts mehr an, als auf die präzise Einhaltung von Regeln. Weil sonst unkontrolliert und unkontrollierbar Menschen in Bewegung gesetzt werden. An dieser wichtigsten Anforderung ist die Bundesregierung in den letzten Wochen gescheitert. Erst Grenzen auf, dann Grenzen zu – dieser Zickzack-Kurs der Bundeskanzlerin war der bisher schwerste und wird der folgenreichste Fehler ihrer Amtszeit sein. Ich glaube, sie hat damit den Zenit ihrer Amtszeit überschritten.
Laut Presseberichten hat die Bundespolizei bereits im Frühjahr vor bis zu einer Million Flüchtlingen gewarnt. Wenn diese Hinweise im Bundesministerium des Inneren nicht ernst genommen wurden, wäre das ein eklatantes Organisationsversagen. Es war fahrlässig, dass sich die Regierungen von Bund und Ländern in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet haben, um die Kommunen mit den Problemen allein zu lassen. Der Flüchtlingsgipfel dieser Woche kommt Monate zu spät.
In Europa ist jetzt ein einheitliches Asylrecht mit gemeinsamen Standards vordringlich. Es ist weniger eine Frage der europäischen Institutionen als der Umsetzung in den Nationalstaaten. Darauf muss Deutschland dringen und nötigenfalls mit den willigen europäischen Partnern, also ohne die Osteuropäer, vorangehen. Europa muss hier seine Handlungsfähigkeit beweisen.
In Deutschland sollte nach unserer Überzeugung der Bund die fachliche und finanzielle Verantwortung für die Flüchtlingshilfe vollständig übernehmen. Er hat die rechtliche und administrative Verantwortung für die Gestaltung der Asylverfahren, also sollte er auch die Kosten für die Unterbringung und das Management der Unterbringung tragen.
Es wird dieser Tage darauf hingewiesen, dass Deutschland sich verändere oder dass Deutschland sich sogar verändern müsse. Wir schätzen die Freiheit in Deutschland, seine Weltoffenheit und Toleranz. Deutschland hat mit dem Grundgesetz eine objektive, liberale Wertordnung. Bei uns sind die Geschlechter gleichberechtigt, das schwule Paar kann Händchen halten und die Muslima frei entscheiden, ob sie Kopftuch trägt oder nicht. Diese Liberalität ist für uns die Grundlage des Zusammenlebens und die Voraussetzung von Integration. Denn eine Gesellschaft kann nur zu Integration einladen, wenn sie sich ihrer eigenen Identität klar ist. Diese Verfassungsgrundsätze müssen wir auch Flüchtlingen vermitteln. Nicht Deutschland muss sich zuerst verändern, sondern viele Flüchtlinge werden sich verändern müssen. Deshalb sollte bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen nicht nur ein deutscher Wortschatz vermittelt werden, sondern auch unsere unaufgebbare liberale Gesellschaftsordnung.
Es kommen nicht nur die viel zitierten syrischen Ärzte nach Deutschland. Viele Flüchtlinge verfügen nicht über ein Qualifikationsniveau, das den Anforderungen des Arbeitsmarkts entspricht. Wir sind in Sorge, was passiert, wenn sich die Hoffnung von tausenden, zehntausenden, vielleicht hunderttausenden Menschen auf eine Wohnung, einen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz nicht schnell erfüllen lassen. Wir sehen jetzt Versäumnisse, die sehr schnell dazu führen können, dass aus der aktuellen Flüchtlingskrise eine Integrationskrise wird. Die Probleme der Gastarbeitergeneration, die Versäumnisse bei Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion dürfen sich jetzt nicht wiederholen.
Alles schaut auf den Bundesinnenminister. Wir fragen uns aber, was eigentlich der Bundeswirtschaftsminister und die Bundesarbeitsministerin in dieser Lage unternehmen? Die bleiben fahrlässig unsichtbar. Wir fordern beide auf, jetzt mit den Verbänden der Wirtschaft und den Gewerkschaften ein ‚Bündnis für Arbeit und Integration‘ zu gründen. Es muss jetzt bereits diskutiert werden, was für eine Einbindung in den Arbeitsmarkt geleistet werden muss und wer welchen Beitrag leisten kann. Bereits mit der Aufnahme in einer Landeseinrichtung muss es beispielsweise einen ersten Qualifikationscheck geben. Längere Orientierungspraktika für Flüchtlinge müssen ermöglicht werden – und zwar auch ohne die Verpflichtung, den Mindestlohn zu zahlen. Hier ist eine Flexibilisierung notwendig, um diesen Menschen eine Beschäftigungschance zu eröffnen. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist kein Selbstläufer. Es wird sich nicht ergeben, dass binnen Monatsfrist offene Stellen für Facharbeiter durch Flüchtlinge besetzt werden.
Wenn jetzt nicht gehandelt wird, wird aus der heutigen Flüchtlingskrise morgen eine Integrationskrise. Die Versäumnisse bei der Generation der Gastarbeiter und bei Spätaussiedlern dürfen sich nicht wiederholen.“
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